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Hartz IV und die Zukunft des Sozialstaates Christoph Butterwegge über Gegenwart und Zukunft des deutschen Sozialsystems Hartz IV und die Zukunft des Sozialstaates Reinhard Jellen 26.05.2012 Christoph Butterwegge über Gegenwart und Zukunft des deutschen
Sozialsystems
Mit Hartz IV hat die deutsche Politik eine Reform geschaffen, anhand der man auf die sozialen Verwerfungen des kapitalistischen Marktes mit seiner Ausweitung und der Verschärfung seiner Prinzipien reagiert. Im Zuge der Finanzkrise wird nun der Versuch unternommen, diese Sozialpolitik mit der Abrissbirne innerhalb der EU zum Export-Schlager zu entwickeln. Dabei halten sich die Erfolge der Reform für die hiesigen Arbeitnehmer durchaus in Grenzen. Ein Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge
http://www.christophbutterwegge.de/index.php der dieses Jahr mit Krise und Zukunft des Sozialstaates http://www.springer-vs.de/Buch/978-3-531-15851-8/Krise-und-Zukunft-des-Sozialstaates.html und Armut in einem reichen Land http://www.campus.de/wissenschaft/politikwissenschaft/Sozialpolitik.40412.html/Armut+in+einem+reichen+Land.99465.html Bücher zum Thema veröffentlicht hat.
Herr Butterwegge, auf welche ökonomischen und gesellschaftlichen Probleme hat die Politik mit den Hartz-IV-Reformen reagiert und ist die aktuelle Sozialpolitik dazu angetan, diese Schwierigkeiten zu meistern?
Christoph Butterwegge: Vordergründig hat die damalige Regierungskoalition unter dem Bundeskanzler Gerhard Schröder auf die mehr als zwei Jahrzehnte andauernde Massenarbeitslosigkeit reagiert, die ja trotz seines Versprechens sogar noch angestiegen war. Aufhänger für die Einsetzung der sogenannten Hartz-Kommission war ein Vermittlungsskandal der Bundesanstalt für Arbeit, die ihre Erfolgsbilanz geschönt hatte. Dabei waren und sind die statistischen Taschenspielertricks, mit denen die Arbeitslosenzahl nach unten manipuliert wird, viel gravierender auch wenn sie nicht illegal sind.
Für die ganz der neoliberalen Standortlogik verhaftete Koalition von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ging es vor allem darum, die Konkurrenzfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland zu stärken. Dies ist auch gelungen, sind doch die Reallöhne zwischen 2000 und 2010 in Deutschland gesunken. Das gesellschaftliche Kernproblem, dass viele Millionen Menschen keine ihrer Ausbildung entsprechende und angemessen bezahlte Arbeit finden, wurde damit aber keineswegs gelöst.
In der Öffentlichkeit wird Hartz IV als harte, aber erfolgreiche Reform verkauf, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/jan-fleischhauer-der-hartz-iv-irrtum-a-831125.html weil diese die Zahl der Arbeitslosen dauerhaft unter 3 Millionen zu drücken. Was sagen Sie dazu?
Der Hartz-IV-Irrtum
Eine Kolumne von Jan Fleischhauer
Nirgendwo wird so beständig Mitgefühl mit Sentimentalität verwechselt wie in der Sozialpolitik. Bislang ging das gut. Weil Deutschland ein reiches Land ist.
Info
Wie muss man sich den typischen Hartz-IV-Empfänger vorstellen? Vielleicht so: studierte Medizinerin mit 20 Jahren Berufserfahrung, jetzt arbeitslos, weil sie der Mann mit sechs Kindern im Stich ließ. Jeden Tag steht die Frau bei der Münchner Tafel, damit die Kinder etwas frisches Obst bekommen; dafür bringt der achtjährige Sohn in Mathematik eine "eins mit Sternchen" nach Hause.
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Ich habe mir das nicht ausgedacht. So steht es bei Kathrin Hartmann in ihrem Buch "Wir müssen leider draußen bleiben", dem aktuellsten Führer durch die "neue Armut".
Wenn es um das Leben am Rande der Gesellschaft geht, scheint es ein nahezu unstillbares Bedürfnis nach Verklärung der Verhältnisse zu geben. In den Halbjahresprogrammen der großen Publikumsverlage hat sich inzwischen ein eigenes Genre des Sozialkitsches etabliert, der die Leser in die Welt zwischen Sozialstation und Armenspeisung führt. Die Autoren entstammen zumeist der postmateriell orientierten Mittelschicht und damit einem Milieu, dessen Lebenszuschnitt nicht nur räumlich von dem ihrer Beobachtungsobjekte himmelweit entfernt ist. Ich frage mich gelegentlich, was diese Frauen (und es sind meist Frauen) dazu treibt, zwischen dem Geplänkel über die richtige Kita für Jonas und Marie die Armenviertel in Berlin oder Frankfurt in Augenschein zu nehmen. Vielleicht ist es Langeweile.
Vielleicht auch einfach das schlechte Gewissen, dass es ihnen so viel besser geht.
Literarischer Ablasshandel
Hartz-IV-Bezieher tauchen in diesem literarischen Ablasshandel ausnahmslos als Opfer der Verhältnisse auf, die ein böser Streich des Schicksals aus der Bahn geworfen hat und nun alles daran setzen, zurück ins Leben zu finden. Dass man auf die Armen nicht länger herabsieht, sondern ihnen mit Verständnis und Anteilnahme begegnet, darf man zu Recht als zivilisatorischen Fortschritt begreifen. Die Frage ist nur, ob man deshalb bei aller Rührung über die eigene Toleranz die Realität aus dem Blick verlieren muss. Es ist immer ein Fehler, Mitgefühl mit Sentimentalität zu verwechseln, leider wird beides nirgendwo so beständig durcheinander geworfen wie in der Sozialpolitik.
Seit Jahren liegt die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter, die nicht arbeiten und von staatlicher Unterstützung und damit der Schaffenskraft anderer abhängen, bei weit über drei Millionen, und zwar weitgehend unabhängig davon, wie sich die Wirtschaft entwickelt. Gerade haben die zuständigen Behörden wieder gemeldet, dass die Zahl der Arbeitslosen weiter gesunken ist, auf jetzt 2,97 Millionen, so wenig wie seit langem nicht mehr. Doch an den Leuten, die besonders dringend auf einen neuen Job angewiesen wären, weil sie schon lange jeder geregelten Arbeit entwöhnt sind, schwingt auch dieser Aufschwung vorbei.
Tatsächlich hat sich die Hartz-IV-Welt vom normalen Arbeitsmarkt weitgehend entkoppelt. In der Berichterstattung findet das kaum Beachtung, dabei ist diese Entwicklung zur Parallelgesellschaft für die Zukunft des Landes mindestens so bedeutend wie das Nebeneinander von Deutschen und Muslimen. Eine nahliegende Erklärung für die erstaunliche Stabilität des Transfermilieus wäre, dass viele, die sich mit der Stütze des Staates eingerichtet haben, dem Arbeitsmarkt nur pro forma zur Verfügung stehen. Entweder, weil es sich für sie nicht lohnt, einer ordentlichen Arbeit nachzugehen - oder weil sie dem Arbeitsleben schon so lange fern sind, dass sie Mühe haben, morgens beizeiten aufzustehen. Die zerstörerische Wirkung dauerhaften Nichtstuns ist von der Sozialforschung hinreichend beschrieben, daran liegt es nicht. Man sollte darauf nur nicht im Detail zu sprechen kommen.
Als ich neulich in einer Diskussion die Empfehlung gab, sich doch einmal mit Schulzahnärzten zu unterhalten, welche Vernachlässigung sich schon am Gebiss von Zweitklässlern ablesen lässt, weil die Eltern versäumt haben, den Kindern den Gebrauch der Zahnbürste zu erklären, trug mir das erst die Missbilligung des Publikums und dann den Tadel der "Süddeutschen" ein. "Stammtisch der Mittelschicht", war der anschließende Artikel überschrieben. Ich habe zwar nie verstanden, was gegen den Stammtisch spricht, zumal in Bayern. Ich halte das für einen Ort geselligen Beisammenseins, aber dennoch war damit irgendwie klar, dass ich mich mit meinem Hinweis daneben benommen hatte.
Mechanismen des deutschen Sozialstaats
Deutschland ist ein reiches Land, deshalb konnte es sich bislang die Pazifizierung seiner Unterschicht durch Geldtransfers leisten. Rund 50 Milliarden geben Bund und Kommunen im Jahr für Hartz-IV aus, wobei nur die Hälfte an die Empfänger als Geldleistung fließt. Die andere Hälfte geht in die diversen Umschulungs- und Bildungsmaßnahmen, denen sich jeder Hartz-IV-Empfänger von Zeit zu Zeit unterziehen muss, um seine Ansprüche zu wahren. Wer die Mechanismen des deutschen Sozialstaats kennt, sieht sofort, dass hier viele Interessen im Spiel sind.
Zum Glück gibt es immer noch genug Menschen, die lieber arbeiten gehen, als Zuhause ihre Tage zu vertrödeln, auch wenn sie davon finanziell nicht wirklich etwas haben. Wer heute als Vorstand einer vierköpfigen Familie an der Ladenkasse steht oder Umzugskisten schleppt, könnte morgen den Job quittieren, ohne dass er schlechter da stände. Auf 1800 Euro belaufen sich derzeit die Zuwendungen für einen Hartz-IV-Haushalt mit zwei Kindern - sind mehr als zwei Kinder im Haus, sind es noch einmal deutlich mehr.
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Die Realitäten des vereinten Europas könnten allerdings dazu führen, dass diese Form der Sozialpolitik schon bald an ihre Grenzen stößt. Was hierzulande als Leben unterhalb der Armutsgrenze gilt, ist in anderen Teilen ein Stück vom Paradies. Im SPIEGEL stand neulich ein ausgezeichneter Report über die Zuwanderung aus den Armenhäusern in Rumänien und Bulgarien, die erst seit ein paar Jahren ebenfalls EU-Mitglieder sind. Die wenigsten machen sich eine Vorstellung, welche Dynamik hier in Gang gesetzt wurde.
Wer darauf hofft, dass man den neuen Mitbürgern die Leistungen streichen könnte, hat die Rechnung ohne den Europäischen Gerichtshof gemacht. http://www.spiegel.de/thema/europaeischer_gerichtshof/ Dieser Diskriminierung haben die Richter vorsorglich den Riegel vorgeschoben: Der Sozialsatz in Deutschland ist für alle gleich, egal ob sie aus Neukölln kommen oder einem Armendorf in der Nähe von Bukarest.
Armut ist unteilbar, das gilt auch für Hartz IV.
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/jan-fleischhauer-der-hartz-iv-irrtum-a-831125.html
Christoph Butterwegge: Wichtiger dafür waren neben der genannten Schönung von offiziellen Statistiken die abziehende Weltkonjunktur und die Stärke der deutschen Exportindustrie, worunter jedoch besonders die südeuropäischen EU-Staaten zu leiden hatten, die ihre steigenden Importe über Kredite finanzieren mussten und heute Schwierigkeiten haben, ihre Schulden zu tilgen.
Welches Ziel verfolgen Politik und Wirtschaft nun eigentlich mit Hartz IV?
Christoph Butterwegge: Die Verwaltung der Arbeitslosigkeit und die Arbeit sollten billiger werden. Durch den von Hartz IV ausgehenden Druck auf Langzeitarbeitslose und Geringverdiener, die damit bei vielen Belegschaften erzeugte Angst vor dem sozialen Absturz, die Förderung der Leiharbeit und die Subventionierung der Unternehmen durch "Kombi-Löhne" der sogenannten Aufstocker wurde massives Lohndumping betrieben.
Gibt es statistische Erhebungen, wie viele Menschen wegen Hartz IV gestorben sind, weil sie sich zum Beispiel nach der Sanktionierung
http://www.heise.de/tp/artikel/31/31162/1.html durch die Job-Center die Heizkosten oder lebensnotwendige Medikamente nicht mehr leisten konnten oder wegen der aussichtslosen Lage Suizid verübt haben?
Aushungern und Fordern
Reinhard Jellen 22.09.2009
Interview mit Claudia Daseking und Solveig Koitz über die rechtswidrige Hartz IV-Sanktionspraxis. Teil 1
Seit 2005 hat sich in Deutschland die Armut, die Kinderarmut und die Anzahl der Tafeln verdoppelt. Der Niedriglohnsektor hat sich innerhalb der letzten zwanzig Jahre gleichfalls dupliziert. Während Einkommen aus Gewinnen und Vermögen um 36 Prozent zugenommen haben, bleibt die Lohnquote mit 66,2 Prozent auf einem historischen Tiefstand: Neun Prozentpunkte unter dem Spitzenniveau von 1974.
Ökonomische Entmachtung und gravierende Entrechtung
Maßgeblicher Türöffner für diese Entwicklung sind die unter dem Begriff Hartz IV subsummierten Reformen des Arbeitsmarkts aus dem Jahr 2005. Mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und der Einführung einer Grundsicherung unterhalb des ehemaligen Sozialhilfeniveaus, indem staatliche Einmalleistungen der Sozialämter durch unzureichende Pauschalen (PDF) ersetzt wurden und der (teilweisen) Verringerung des Schonvermögens wurde bei Langzeitarbeitslosen eine verheerende Armutsspirale in Gang gesetzt. Doch damit hören die Zumutungen für Bezieher des Arbeitslosengelds II nicht auf, denn mit der ökonomischen Entmachtung geht eine gravierende Entrechtung einher. De facto nähert man sich durch die exponentielle Ausweitung der Zumutbarkeitskriterien für Arbeit hart der Grenze zur Zwangsarbeit. Die Alg-II-Bezieher bewegen sich nicht mehr als Rechtssubjekte, als Staatsbürger in der Gesellschaft, sondern werden zu reinen Pflichterfüllern degradiert. Sie sind auf den Status von Metöken und Heloten herabgesunken und werden - von Politikern wie Wolfgang Clement als "Parasiten" beschimpft - für die öffentliche Hetzjagd freigegeben.
Großzahl der Sanktionen widerrechtlich
Zusätzlich zu dieser allgemeinen Machtlosigkeit und Erniedrigung sind Langzeitarbeitslose noch der Willkür der Behörden ausgesetzt. Denn die JobCenter und ARGEN haben das Recht, die Zahlungen an Hartz-IV-Empfänger bis zum Wegfall der Leistung einzuschränken, falls diese ihren Anweisungen nicht Folge leisten. Letzteres ist für die Arbeitslosen durchaus schwieriger, als sich das anhört: Schließlich sind die Alg-II-Regelungen in etwa so kompliziert, wie das deutsche Steuerrecht, allerdings mit dem feinen Unterschied, dass Wohlbetuchte mit Hilfe juristischer Spezialisten Ausnahmeregelungen und Steuerschlupflöcher für sich ausfindig und zu ihrem Vorteil nutzen können, während man den Alg II-Bezieher in einem Dschungel voller Fußangel-Paragrafen und unklarer Regelungen, die sich mitunter gegenseitig widersprechen, alleine stehen lässt. Sanktionen sind nicht nur, aber auch ein Mittel, um den Sparvorgaben der Bundesagentur für Arbeit nachzukommen.
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Eine Großzahl davon ist rechtswidrig, wie die Anzahl der gewonnen Prozesse gegen die Maßnahmen beweist. Diese Anordnungen sind keine Bagatellmaßregeln, sondern gehen an die Existenz: In der Broschüre "Wer nicht spurt, kriegt kein Geld - Sanktionen gegen Hartz-IV-Beziehende - Erfahrungen, Analysen, Schlussfolgerungen" (PDF), welche von der Berliner Kampagne gegen Hartz IV herausgegeben wurde, ist zum Beispiel von einem Fall zu lesen, in dem ein Diabetiker sich aufgrund der Sanktionen kein Insulin und auch kein Essen mehr leisten konnte. Auch sind die Umstände der darin beschriebenen Sanktionen oftmals grotesk: Ein Epileptiker sollte auf einem Baugerüst arbeiten, eine Hartz IV-Bezieherin wurde vom Job-Center dazu angehalten, die "Nebentätigkeit" Prostitution gegen ihren Willen fortzusetzen.
Über die drakonischen Strafen, die das Gesetz vorschreibt, und die zum Teil lebensgefährliche Sanktionierungspraxis von JobCentern und ARGEN sprach Telepolis mit Claudia Daseking und Solveig Koitz, welche die Broschüre mitverfasst haben und Mitinitiatorinnen des "Bündnis für ein Sanktionsmoratorium" (PDF) sind, einer erstaunlich breiten Plattform namhafter Vertreter aus Politik, Erwerbsloseninitiativen, Wissenschaft und Kirche. Solveig Koitz arbeitet seit Jahren als Sozialberaterin für Hartz-IV-Beziehende.
"Sanktionen kürzen die Leistungen bis unter das Existenzminimum"
Die Sanktionsfälle gegen Hartz-IV-Bezieher in Ihrer Broschüre lesen sich geradezu kafkaesk. Haben Sie besonders krasse Beispiele ausgesucht?
Claudia Daseking: Nein, die Fälle sind ein Querschnitt des alltäglichen Hartz-IV-Wahnsinns, auch wenn die meisten Fälle nicht derart grotesk sind wie die von ihnen genannten Beispiele. Wenn Sie sich im Internet die Unterzeichnerliste unseres Aufrufs für ein Sanktionsmoratorium , also ein Aussetzen der Hartz-IV-Sanktionen, angucken, können Sie sehen, wie viele Leute aus sozialen Berufen den Aufruf unterschrieben haben, wie viele Leute aus caritativen Einrichtungen, Sozialberatungen, Schuldnerberatungen, Leute, die täglichen Umgang mit dem Leid haben. Dann sehen Sie, dass wir ganz dicht dran sind an der Wirklichkeit.
2008 gab es 780.000 Sanktionen
Was ist denn so schlimm an den Sanktionen?
Solveig Koitz: Sanktionen kürzen die Leistungen bis unter das Existenzminimum. Um Missverständnissen vorzubeugen: Sanktionen betreffen nicht Fälle von Leistungsmissbrauch, sondern es geht um Menschen, die auf die niedrigen Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind und denen man irgendein Fehlverhalten vorwirft. Bei vielen Langzeitarbeitslosen, die über keinerlei Ressourcen verfügen und zum Beispiel kein Schonvermögen haben, führen diese Geldkürzungen sofort in blanke Not, in staatlich verordnete Not - wie man sie sich für Deutschland, einem Land mit Sozialstaat nicht vorstellen kann, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hat.
Im vergangenen Jahr wurden mehr als 780.000 Sanktionen verhängt. Es mag wenig klingen, dass "nur" etwa drei Prozent der Alg-II-Beziehenden sanktioniert werden - wie es immer wieder verharmlosend und beschwichtigend angeführt wird, so auch vom Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt. Man muss sich aber vergegenwärtigen, wie viele Menschen dies massiv trifft. So mussten im Jahr 2008 knapp 100.000 junge Erwachsene - die Altersgruppe der unter 25jährigen wird besonders hart sanktioniert - einen Teil des Jahres völlig ohne Geldmittel auskommen, in der Regel drei Monate lang, und haben von den JobCentern, wenn überhaupt, nur Lebensmittelgutscheine erhalten.
Ein zweiter Punkt ist die Hilflosigkeit, wenn man dem Sanktionsapparat ausgeliefert ist. Das ist entwürdigend. Die vielen erfolgreichen Klagen und Widersprüche dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass weniger als zehn Prozent der Bestraften von diesen Rechtsmitteln Gebrauch machen. Über die meisten Menschen brechen die Sanktionen wie eine Katastrophe herein, und die Kraft geht dafür drauf, die Grundversorgung und drum herum den Alltag neu zu organisieren und die Sanktion psychisch zu verkraften. Für den Rechtsweg braucht man Energie und Zeit, außerdem Wissen oder zumindest Kontakte.
Druck auf die regulär Beschäftigten
Claudia Daseking: Und drittens wirken die Sanktionen nicht nur auf die Sanktionierten. Alle, die in die Nähe des Hartz-IV-Regimes kommen, stehen unter dem Druck, ganz schnell irgendeine Arbeit anzunehmen, egal um welchen Preis. So werden Menschen für den Niedriglohnsektor "zugerichtet". Und diese Bedrohung spüren auch die noch Erwerbstätigen und sind zu vielerlei Zugeständnissen bereit. Statt "Arbeit muss sich wieder lohnen" ist das Motto von Hartz IV eigentlich: "Arbeitslosigkeit muss weh tun". Als Gerhard Schröder den Wirtschaftsgrößen in Davos 2005 verkündete, Deutschland habe einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt, hat er dies als Erfolg des Umbaus des Sozialstaates, als unmittelbaren Erfolg von Hartz IV proklamiert.
"Fast jede Arbeit zumutbar"
Können Sie uns kurz schildern, in welchen Fällen Sanktionen gegen Hartz-IV-Beziehende verhängt werden?
Solveig Koitz: Die landläufige Meinung ist ja, sanktioniert würden die "Drückeberger", also die, die sich weigern würden, Arbeit anzunehmen. Es ist tatsächlich einer der Gründe für Sanktionen, wenn sogenannte "zumutbare" Arbeit abgelehnt, vereitelt oder abgebrochen wird. Ein Blick in die Sanktionsstatistik zeigt aber, dass dies ein eher seltener Sanktionsgrund ist, der nur etwa zehn Prozent der Fälle ausmacht. Dazu muss man auch wissen, dass schon ein Verhalten im Bewerbungsverfahren, das einem Arbeitgeber aus irgend einem Grund nicht gefällt, zu einer Sanktion führen kann. Hinzu kommt, dass fast jede Arbeit als zumutbar gilt, egal woher man beruflich kommt und wo man hin will, und fast egal, wie niedrig der Lohn ist, nur Lohnwucher darf es nicht sein. Aber nicht einmal daran halten sich die JobCenter und es werden Sanktionen verhängt, wenn sich Erwerbslose weigern, für Wucherlohn zu arbeiten. Wenn solche Sanktionen vor Gericht landen, werden sie aufgehoben, zum Beispiel in einem Fall, wo eine Frau Arbeit bei einem Textildiscounter für 4,50 € Stundenlohn nicht antreten wollte.
Arbeitsverweigerung ist also ein seltener Sanktionsgrund. Wofür werden die meisten Sanktionen verhängt?
Solveig Koitz: Über die Hälfte der Sanktionen betrifft Meldeversäumnisse, also wenn jemand zu einem Termin beim JobCenter nicht erscheint oder zu spät kommt. Der zweithäufigste Sanktionsgrund sind Verstöße gegen die sogenannte Eingliederungsvereinbarung, das waren 2008 etwa 17 Prozent der Sanktionen, zum Beispiel wenn zu wenig Bewerbungen vorgelegt wurden. Nur ein, zwei Bewerbungen weniger als in der Eingliederungsvereinbarung festgelegt, also zum Beispiel achtzehn Bewerbungen im Monat statt 20, und eine Sanktion wird fällig.
"Zwangsvertrag"
Eine Zwischenfrage: Eine Eingliederungsvereinbarung, was ist das? Und zwanzig Bewerbungen im Monat, ist das realistisch? Bewerbungen müssen doch zielgerichtet sein, wenn man damit Erfolg haben will ...
Solveig Koitz: Da sprechen Sie mehrere wunde Punkte an. Bewerbungen sind nicht billig und die Kosten dafür nicht im Regelsatz enthalten. Die JobCenter übernehmen aber Bewerbungskosten nur in bescheidener Höhe. Und wie viele Alg-II-Beziehende wagen es angesichts angedrohter Sanktionen, auf der Kostenübernahme der angeordneten Bewerbungen zu bestehen und im Ablehnungsfall weniger Bewerbungen zu schreiben? Die JobCenter dürfen eigentlich keine Bewerbungen verlangen, deren Kosten sie nicht erstatten. In der Praxis geschieht das aber.
Was die Eingliederungsvereinbarungen betrifft: Diese müssen die JobCenter mit allen Alg-II-Beziehenden abschließen. Darin sollen, vereinfacht gesagt, für beide Seiten ihre im Gesetz allgemein angelegten Pflichten konkretisiert werden. Dabei ist schon das Wort "Vereinbarung" irreführend, "Zwangsvertrag" wäre hierfür eine passendere Bezeichnung, denn die Unterzeichnung steht der einen Seite nicht frei, die Unterschriftsverweigerung ist laut Gesetz ihrerseits ein Sanktionsgrund. Dabei wissen alle, die nur ein Fünkchen von Sozialarbeit verstehen, dass in diesem Bereich die unbedingte Freiwilligkeit der Kooperation eine essentielle Voraussetzung dafür ist, dass die Zusammenarbeit zwischen Betreuenden und Klienten gelingt, und dass die vereinbarten Ziele bestmöglich erreicht werden. Was diese Eingliederungs"vereinbarung" laut Gesetz enthalten und wie sie zustande kommen soll, und wie das demgegenüber in den JobCentern gehandhabt wird, das sind weitere Probleme.
"Überfordernde Pflichten"
Claudia Daseking: Ja, zum Beispiel ist es der Normalfall, dass einem der fertige Entwurf zur sofortigen Unterschrift vorgelegt wird, ohne vorherige Besprechung, was darin aufgenommen werden sollte. Unter Umständen steht da viel Unverständliches drin, zum Beispiel lange Gesetzeszitate. Bei einem der in unserer Broschüre Porträtierten war es so, dass er überhaupt nicht verstanden hat, was er da unterschrieben hat - erklärt hat es ihm im JobCenter niemand, obwohl er krankheitsbedingte Auffassungsschwierigkeiten hat, von denen das JobCenter wusste.
Zum Widersinn von Eingliederungsvereinbarungen, die überfordernde Pflichten enthalten und so zwangsläufig zu Sanktionen führen, nannte die Mitarbeiterin einer Sozialberatungsstelle, die wir im Rahmen unserer Erhebung befragt hatten, ein Beispiel aus ihrem Erfahrungsbereich: "Wenn einem 20jährigen Obdachlosen, dessen Leben chaotisch und instabil ist und der psychisch nicht belastbar ist, zehn Bewerbungen im Monat abverlangt werden, muss man sich nicht wundern, dass der scheitert."
Verstoß gegen Dienstanweisung
Das Bündnis für ein Sanktionsmoratorium, in dem Sie mitwirken, hat soeben einen offenen Brief (PDF) an den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit geschrieben, weil durch die JobCenter entgegen einer BA-Anweisung weiterhin Sanktionen verhängt werden, wenn Alg-II-Beziehende ihre Unterschrift unter eine Eingliederungsvereinbarung verweigern. Sie fordern Aufklärung darüber, wie es dazu kommen konnte und sofortige Abhilfe. Können Sie mehr zum Hintergrund sagen?
Solveig Koitz: : Seit Dezember 2008 gibt es die Dienstanweisung der Bundesagentur für Arbeit , dass die Unterschriftsverweigerung unter die Eingliederungsvereinbarung, die laut Gesetz ein Sanktionsgrund ist, nicht mehr sanktioniert werden soll. Denn die Bundesregierung hat nach entsprechenden Gerichtsurteilen in der Begründung zu einer geplanten Gesetzesänderung eingeräumt, dass bei der jetzigen Gesetzesregelung gegen die Verhältnismäßigkeit verstoßen wird, die ein Verfassungsgrundsatz ist. Im Vorgriff auf diese geplante Gesetzesänderung, die übrigens immer noch nicht erfolgt ist, hat dann die BA diese Dienstanweisung herausgegeben.
Trotzdem werden in den JobCentern in nahezu unveränderter Höhe Sanktionen verhängt, wenn jemand die Unterschrift unter eine Eingliederungsvereinbarung verweigert hat, wie in den aktuellen Sanktionsstatistiken der BA zu sehen ist. Auch dieses Beispiel zeigt, wie notwendig ein Sanktionsmoratorium ist, um dem Handeln der JobCenter Einhalt zu gebieten.
Gibt es denn noch weitere Sanktionsgründe?
Solveig Koitz: Der dritthäufigste Sanktionsgrund - im Jahr 2008 waren es 11 Prozent der Fälle - ist die Weigerung, Eingliederungsmaßnahmen wie Ein-Euro-"Jobs", Bewerbungstrainings und unbezahlte Praktika anzutreten oder fortzuführen. Im Gesetz sind weitere Sanktionsgründe festgelegt - die Pflichten von Hartz-IV-Beziehenden erschöpfen sich ja nicht im bisher Genannten. In der Sanktionspraxis kommen diese Fälle, wie zum Beispiel die Fortsetzung unwirtschaftlichen Verhaltens, nur selten vor. - Die Sanktionsstatistik der Bundesagentur für Arbeit sagt aber nichts darüber aus, ob die Sanktionierten tatsächlich die genannten Pflichtverletzungen begangen haben oder ob ihnen ein Fehlverhalten nur unterstellt wurde. Auf den hohen Anteil rechtswidriger Sanktionen wollen wir noch zu sprechen kommen.
"Bescheinigung für Bettlägerigkeit gefordert"
Sie sagten, die meisten Sanktionen werden wegen Meldeversäumnissen verhängt. Aber kann man nicht erwarten, dass jemand, der staatliche Leistungen bekommt, zu den Terminen bei der Behörde erscheint, und zwar pünktlich?
Solveig Koitz: Dass man irgendwo zu spät kommt, sollte natürlich nicht vorkommen, ist aber den meisten von uns schon mal passiert. Wenn man krank ist und deshalb nicht zu einem Termin ins JobCenter gehen kann, hat man zwar die Möglichkeit, einen Krankenschein zu schicken, aber es dauert mehrere Tage, bis die Post innerhalb des JobCenters auf dem richtigen Schreibtisch landet - in Berlin sind es durchschnittliche sechs Tage, wie uns ein JobCenter-Mitarbeiter verriet. Bis dahin kann schon das Sanktionsverfahren eingeleitet worden sein und muss dann mühsam wieder gestoppt werden. Dazu kommt, dass immer wieder JobCenter normale Krankenscheine nicht als Entschuldigung gelten lassen wollen, sondern Bescheinigungen für Bettlägerigkeit verlangt haben, die Ärzte normalerweise nicht ausstellen. Dieses Vorgehen hat die Bundesagentur für Arbeit inzwischen in einer Dienstanweisung als unzulässig gewertet.
Es gibt auch Menschen, die auf Grund ihrer bisherigen Erfahrungen mit dem JobCenter oder mit Behörden derart Angst davor haben, was im JobCenter mit ihnen gemacht wird, dass sie trotz der Sanktionsdrohung nicht zu einem Termin gehen. Und dann gibt es diejenigen, die wegen ernster psychischer Probleme oder einer Suchterkrankung nicht einmal ihren Alltag bewältigen können und ihre gesamte Post nicht zur Kenntnis nehmen. Das Klischee, dass Leute einfach zu faul sind, um morgens aufzustehen und ins JobCenter zu gehen, mag vereinzelt zutreffen, aber in vielen Fällen dürfte es an der Realität vorbeigehen.
"Schwerwiegende Versorgungslücken"
Claudia Daseking: Natürlich gibt es auch unter Erwerbslosen Leute, die "total verpeilt" sind, die ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen und die nicht mit Behörden umgehen wollen oder können, aus welchen Gründen auch immer. Aber kann es ein geeigneter Umgang damit sein, dass diesen Menschen das Existenzminimum gekürzt wird? Wir finden: nein. So ein Vorgehen mutet, gelinde gesagt, an wie der Versuch hilfloser Eltern, ihr unartiges Kind zur Einsicht zu bewegen, indem das Spielzeug weggenommen und das Kind ohne Abendbrot ins Bett geschickt wird.
Nun ist das Leben als Hartz IV-Bezieher ohnehin kein Zuckerschlecken. Da muss es doch dramatisch sein, wenn das Geld noch weiter gekürzt wird...
Claudia Daseking: So ist es. Das Arbeitslosengeld II soll das Existenzminimum abdecken und es ist zweifelhaft, ob das überhaupt gewährleistet ist. Es liegt auf der Hand, dass schwerwiegende Versorgungslücken entstehen, wenn an diesem Existenzminimum auch noch gekürzt wird. Diejenigen unter den Sanktionierten, denen vielleicht noch das physische Existenzminimum verbleibt, werden völlig vom gesellschaftlichen Leben abgeschnitten - oder auch sie hungern, um nicht darauf zu verzichten. Menschliche Existenz ist doch mehr als das nackte Überleben.
Wenn ein Familienmitglied sanktioniert wird, sind alle im Haushalt davon betroffen, schließlich werden im Kühlschrank keine Trennfächer eingezogen. Wenn der Regelsatz eines Familienmitglieds komplett gestrichen wird oder sogar dessen Wohnkosten nicht übernommen werden, ist das besonders gravierend. Dann müssen zum Beispiel Eltern von den Regelsätzen ihrer Kinder leben. Wenn Mietschulden entstehen, trifft dies ebenso die nicht sanktionierten Familienmitglieder. Das ist Sippenhaft.
Komplette Streichung der Leistungen
Wie hoch fallen denn die Kürzungen des Hartz-IV-Geldes aus?
Solveig Koitz: Das reicht von zehn Prozent des Regelsatzes für das erste Mal, wenn man einen Termin im JobCenter verpasst, über 30 Prozent des Regelsatzes, wenn einem das erste Mal ein anderer Pflichtverstoß zur Last gelegt wird - vorausgesetzt, man ist mindestens 25 Jahre alt, den unter 25jährigen wird schon beim ersten derartigen Pflichtverstoß 100 Prozent vom Regelsatzes gekürzt. Bei wiederholten Pflichtverletzungen geht das ruckzuck bis zur vollständigen Streichung des gesamten Alg II, also von Regelsatz, Wohnkosten und Sozialversicherungsbeiträgen. Die Kürzungen erfolgen jeweils für drei Monate.
http://www.heise.de/tp/artikel/31/31162/1.html
Christoph Butterwegge: Solche Erhebungen sind mir nicht bekannt, lassen sich aber auch nur schwer durchführen. Da solche Kausalzusammenhang nur schwer nachzuweisen sind, dürfte es auch kaum möglich sein, entsprechende Statistiken zu erstellen. Das soziale Klima der Bundesrepublik hat sich durch Hartz IV und andere Maßnahmen zum "Um-" beziehungsweise Abbau des Wohlfahrtsstaates, wie man ihn bis dahin kannte, allerdings spürbar verschlechtert. In das Leben der von Hartz IV unmittelbar Betroffenen und Bedrohten sowie ihrer Familien greifen die Regelungen dieses Gesetzespaketes drastisch ein. Die dadurch verursachten gesundheitlichen, psychischen und psychosozialen Beeinträchtigungen können in Einzelfällen ohne Zweifel lebensgefährdend wirken.
Warum ist in den Medien davon so wenig zu erfahren und wieso hat man sich hier bis auf ganz wenige Ausnahmen auf die Hetze gegen Hartz-IV-Bezieher verlegt? Zum Beispiel ist im Grunde jemand, der von seiner Arbeitslosenagentur sanktioniert wird, erst einmal von lebensnotwenigen Ressourcen abgeschnitten. Thematisiert wird aber in den Medien immer die angeblich hohe Zahl von Sozialbetrügern ..
http://www.tz-online.de/aktuelles/bayern/schlossherr-kassierte-hartz-fuhr-rolls-royce-2327194.html
Schlossherr kassierte Hartz IV und fuhr Rolls Royce
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22.05.12
Bayern
Schlossherr kassierte Hartz IV und fuhr Rolls Royce
Ebelsbach - Schlossbesitzer Dominique A. (45) hat fast zwei Jahre lang Hartz IV kassiert und einen Rolls Royce gefahren. Wir sein bayerisches Anwesen jetzt noch verschenkt?
Dominique A. (45) ist ein Mann mit großartigem Auftreten und ein Mann, dem die Eloquenz in die Wiege gelegt wurde. Im Jahr 2000 kaufte das männliche Fotomodell für zwei Millionen Mark das unterfränkische Renaissance-Schloss Ebelsbach – und zog alsbald samt den Doggen und dem Pop-Art-Rolls-Royce in eine 400 Quadratmeter-Wohnung im Schloss ein. Dort lebte er auch, als er am 23. Mai 2008 bei der Kölner ARGE für sich Hartz IV beantragte. Fast zwei Jahre kassierte der Schlossherr nun unberechtigt 12 165,84 Euro. Bis ein mysteriöser Großbrand diese Machenschaften ans Licht brachte …
Die nobelsten Kaufhäuser: Hier kann man den Luxus kaufen
Noch im April hatte die tz berichtet, dass es in Ebelsbach ein Schloss zu verschenken gebe! Der Eigentümer könne die Sanierungskosten in Höhe von zehn Millionen Euro nach dem Großfeuer vom 10. September 2009 nicht zahlen. Da wusste noch niemand, dass Dominique A. sich schon kurz darauf wegen Betrugs vor dem Amtsgericht Köln verantworten musste.
In seinem Antrag auf Sozialhilfe hatte er nicht nur sein Schloss, sondern auch eine Uhrensammlung für 150 000 Euro, ein Hausboot in Hamburg, den Rolls-Royce und seinen Zugriff aufs Konto der Mama verschwiegen – über das er auch Luxusartikel, Restaurant- und Hotelrechnungen bezahlte. „Ich träumte davon, Schloss Ebelsbach wieder in neuem Glanz erstrahlen zu lassen und bat meine Mutter, mir zu helfen“, rechtfertigt A. heute sein Tun. Zudem habe er unter dem Einfluss eines starken Schmerzmittels gestanden.
Der Richter in Köln hielt ihm sein Geständnis zugute und verurteilte ihn zu neun Monaten Haft auf Bewährung. Bedingung: Der Schlossherr macht den Schaden wieder gut.
Das würde man sich in Ebelsbach nur zu gerne auch wünschen. Noch heute wundert sich Bürgermeister Werner Ziegler (62), wie man dem Schlossherrn solange gewähren lassen konnte: „Er trat immer geschniegelt auf, immer feine Anzüge. Mal kam er im Bentley, mal mit dem Daimler.“ Und überhaupt erst die hochfliegenden Pläne – im Schloss sollte ein Fünf-Sterne-Hotel eingerichtet werden, dazu auch gleich ein Businesscenter. Wie sich herausstellte, waren diese allesamt nur Luftschlösser. Ziegler: „Dafür spielte er beim Altherren-Fußball mit, als ginge es auf dem Platz um die Champions League. Auch die Brotzeit hat er gern genossen. Doch in die Kasse gab er nie etwas. Er war ein richtiger Absahner!“
Das ist allerdings juristisch nicht von Bedeutung. Zudem wurden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Bamberg wegen Brandstiftung eingestellt, mit der Begründung: keine hinreichenden Verdachtsmomente.
Dominique A. hat sich nach Mallorca zurückgezogen, wo er in den 90er-Jahren die Wirtschaftsförderung leitete. Er sagt heute: „Schloss Ebelsbach hat mir kein Glück gebracht.“ Stattdessen saniert er nun mit Freunden ein Ferienhaus. Es nennt sich Casa Phönix. Vielleicht deswegen, weil A. eines Tages selbst wie Phönix aus der Asche aufsteigen könnte?
Was mit dem Schloss passiert, ist weiter unklar. Ob und wer sich es sich schenken lässt, wird sich zeigen ...
tz
http://www.tz-online.de/aktuelles/bayern/schlossherr-kassierte-hartz-fuhr-rolls-royce-2327194.html
Christoph Butterwegge: Für mich sind Klischees wie das der Griechen, die faul in der Sonne liegen, statt fleißig zu arbeiten und das der Hartz-IV-Empfänger, die faul in der Hängematte unseres Sozialstaates liegen, ohne sich um eine Stelle zu bemühen, ein Austragungsmodus gesellschaftlicher Verteilungskämpfe. Indem man die von Arbeitslosigkeit und Armut betroffenen Menschen in der Öffentlichkeit selbst für ihre Misere verantwortlich macht, werden die in Wirklichkeit politisch und ökonomisch Verantwortlichen entlastet sowie die grundlegenden Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse verschleiert. Das ist umso weniger verwunderlich, als zumindest die privaten Massenmedien davon unmittelbar profitierenden Verlegern, Konzernen und Großaktionären gehören.
Können Sie uns eine Abschätzung abgeben, wie unangenehm es sich unter Hartz IV im EU-weiten Vergleich lebt?
Christoph Butterwegge: Deutschland ist mit Gerhard Schröders "Agenda 2010", den sogenannten Hartz-Gesetzen zur Deregulierung des Arbeitsmarktes und der Erhöhung des gesetzlichen Eintrittsalters durch die zweite Große Koalition auf Bundesebene vorangegangen, exportiert wird diese Politik der sozialen Eiseskälte gegenwärtig im Rahmen der Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise allerdings mit dem dafür nötigen Druck auch in die europäischen Partnerländer. "Eigenverantwortung" statt Solidarität heißt es. Nach der Hartz-IV-Logik geht es heute Griechenland gegenüber um Fordern und gegebenenfalls Hinausbefördern aus der Euro-Zone.
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Immer wieder wird der juristisch gebotenen Abmilderung des Hatz IV-Elends von Seiten der Politik ein Riegel vorgeschoben. So wird das Betreuungsgeld
http://www.sueddeutsche.de/politik/kein-betreuungsgeld-fuer-hartz-iv-bezieher-wahlfreiheit-haben-nur-die-gutverdienenden-1.1341295
für Hartz IV-Bezieher wohl aus angeblich rechtlichen Gründen verweigert, dabei müsste dieses einfach nur nicht als Einkommen gewertet werden, wie es zum Beispiel beim Pflegegeld geschieht. Gleichzeitig schmeißt der Staat den Banken qua Rettungsschirm ohne jegliche Gegenleistung Milliardenbeträge hinterher. Wie viel Ungerechtigkeit hält unser Gemeinwesen aus?
Christoph Butterwegge: Das von der CSU durchgesetzte, aber sogar innerhalb der Union weiter höchst umstrittene Betreuungsgeld ist wahrscheinlich die unsinnigste Sozialleistung seit Christi Geburt. Dass man es ausgerechnet jenen Familien vorenthalten will, die finanzieller Unterstützung am meisten bedürfen, zeigt deutlich, wie unsozial die Regierungspolitik der CDU/CSU/FDP-Koalition ist. Bezüglich der sozialen Ungerechtigkeit nähert sich die Bundesrepublik den USA und anderen weniger entwickelten Wohlfahrtsstaaten immer mehr an. Auch die Folgen dürften ähnlich sein: Es droht ein Zerfall der Gesellschaft; besonders die Metropolen unseres Landes müssen künftig mit noch mehr Drogenmissbrauch, Brutalität und Kriminalität rechnen.
Kein Betreuungsgeld für Hartz-IV-Bezieher "Wahlfreiheit haben nur die Gutverdienenden"
25.04.2012, 13:42
Von Barbara Galaktionow
Hartz-IV-Familien sollen nicht vom Betreuungsgeld profitieren. Das plant die schwarz-gelbe Regierungskoalition und behauptet zugleich, das gehe rechtlich gar nicht anders. "Nonsens", heißt es von Seiten der Sozialverbände. Die Koalition gönne den Arbeitslosen die Leistung einfach nicht.
Krippe oder privat geregelte Betreuung? Mit dem geplanten Betreuungsgeld will die Regierung für Eltern "Wahlfreiheit" schaffen. Mama und Papa sollen selbst entscheiden, auf welche Weise ihr Kleinkind am besten versorgt wird.
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Doch eine Gruppe soll nach dem Willen der schwarz-gelben Koalition keine Wahlfreiheit haben: die Hartz-IV-Empfänger. Ihnen soll das Betreuungsgeld zwar ausgezahlt, dann aber sogleich wieder auf den Hartz-IV-Bezug angerechnet, sprich: abgezogen werden. Das sei rechtlich gar nicht anders möglich, heißt es aus Regierungskreisen. Durch ein höheres Einkommen von zunächst 100, später 150 Euro Betreuungsgeld müsse zwangsläufig der Hartz-IV-Satz sinken.
"Alles Nonsens", sagt Ulrich Schneider, Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. "Die Koalition traut sich nicht zuzugeben, dass sie Hartz-IV-Beziehern dieses Geld schlicht nicht gönnt." Rechtlich sei eine Auszahlung der neuen Leistung auch an Hartz-IV-Empfänger nicht nur möglich, sondern sogar geboten.
Es gebe in der Hartz-IV-Gesetzgebung einen Passus, in dem geregelt werde, was alles als Einkommen gelte. Wenn das Betreuungsgeld hier nicht aufgenommen würde, müsse es auch nicht vom Arbeitslosengeld II abgezogen werden. Dass dies möglich sei, zeigten Leistungen wie das Pflegegeld oder Entschädigungsleistungen wie zum Beispiel für Kriegsopfer, die bewusst nicht angerechnet würden. Auch das Elterngeld sei ja bis zum Sparpaket 2010 an Hartz-IV-Bezieher ausgezahlt worden.
Das Betreuungsgeld sei kein Einkommen, sondern eine "Anerkennungsprämie", die allein deshalb gezahlt werde, weil Menschen ihr Kind nicht in öffentliche Kindertagesstätten schickten. Daher halte der Paritätische Wohlfahrtsverband eine Ungleichbehandlung für verfassungsrechtlich bedenklich.
Die Hilflosigkeit der Bundesregierung
Auch das Argument, dass hier falsche Anreize beseitigt würden, wonach gerade sozial benachteiligte Kinder des Geldes wegen zu Hause versorgt würden, lässt Schneider nicht gelten. Studien aus Thüringen und Schweden, wo es bereits ein Betreuungsgeld gibt, hatten solche Effekte aufgezeigt.
"Dieses Argument würde dann greifen, wenn wir in Deutschland überhaupt genügend Kinderkrippen hätten", sagt der Verbandschef. Doch das sei nicht der Fall. Gerade Alleinerziehende würden händeringend nach einer Betreuungsmöglichkeit suchen, sie wollten ja arbeiten. Solange nicht alle Eltern für ihre Kinder einen Krippenplatz bekämen, die dies wollten, sei diese Argumentation daher "obszön". "Wahlfreiheit haben nur die Gutverdienenden", sagt Schneider.
Das sieht man bei der Arbeiterwohlfahrt ähnlich: Es sei seit langem bekannt, dass das Betreuungsgeld "Fehlanreize" schaffe und dazu führe, dass gerade die Familien ihre Kinder aus der Kita nähmen oder sie erst gar nicht hinschickten, die von einem Kita-Platz besonders profitieren, teilt AWO-Chef Wolfgang Stadler auf der Internetseite des Verbands mit.
"Aber das lässt sich aus Sicht der AWO nicht dadurch lösen, dass man das Betreuungsgeld nur noch Familien mit besserem Einkommen gewährt." Der Aktionismus der Bundesregierung und ihre täglich neuen Vorschläge zum Betreuungsgeld zeigten nur eines: ihre Hilflosigkeit. Egal, was die Bundesregierung noch verspreche oder vorschlage, "es macht das Betreuungsgeld weder richtiger noch sinnvoller", so Stadler.
Auch in der Lösung des Problems sind sich die Verbandschef einig: Das ganze Projekt Betreuungsgeld muss gekippt werden. Statt in die umstrittene neue Familienleistung solle das Geld in den Ausbau von Betreuungseinrichtungen und Bildungsinstitutionen gesteckt werden, fordern sie. "Dann kommt das Geld auch da an, wo es hingehört", betont Stadler. Und Schneider präzisiert: "Und nicht auf den Sparkonten Wohlhabender."
Wie wird es Ihrer Einschätzung mit dem Sozialstaat weitergehen und kann man sich bei den Alternativen dazu auf die politischen Parteien verlassen?
Christoph Butterwegge: Wenn keine grundlegende Kurskorrektur erfolgt, spaltet sich unser Gemeinwesen in einen Wohlfahrtsmarkt sowie einen Wohltätigkeitsstaat: Auf dem Wohlfahrtsmarkt kaufen sich Bürger, die es sich finanziell leisten können, soziale Sicherheit (zum Beispiel Altersvorsorge durch Versicherungspolicen der Assekuranz). Der zu Grunde reformierte Sozialstaat stellt nur noch die euphemistisch "Grundsicherung" genannte Minimalleistungen bereit, die Menschen vor dem Verhungern und Erfrieren bewahren, überlässt sie ansonsten jedoch der Obhut karitativer Organisationen und privater Wohltäter. An die Stelle des Sozialstaates tritt ein Staat der Stifter, privaten Spender und Sponsoren.
Mit der solidarischen Bürgerversicherung verfügen SPD, Bündnisgrüne und LINKE zwar über eine sinnvolle Alternativkonzeption zum Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat. Leider fehlt ihnen jedoch die Fähigkeit und Bereitschaft, dafür gemeinsam einzutreten und es konsequent umzusetzen. Nur so könnte der Wohlfahrtsstaat eine sinnvolle Weiterentwicklung erfahren, statt endgültig ruiniert zu werden.
http://www.heise.de/tp/artikel/36/36980/1.html
http://sozialrechtsexperte.blogspot.de/2012/05/hartz-iv-und-die-zukunft-des.html
Mit Hartz IV hat die deutsche Politik eine Reform geschaffen, anhand der man auf die sozialen Verwerfungen des kapitalistischen Marktes mit seiner Ausweitung und der Verschärfung seiner Prinzipien reagiert. Im Zuge der Finanzkrise wird nun der Versuch unternommen, diese Sozialpolitik mit der Abrissbirne innerhalb der EU zum Export-Schlager zu entwickeln. Dabei halten sich die Erfolge der Reform für die hiesigen Arbeitnehmer durchaus in Grenzen. Ein Gespräch mit dem Sozialwissenschaftler Christoph Butterwegge
http://www.christophbutterwegge.de/index.php der dieses Jahr mit Krise und Zukunft des Sozialstaates http://www.springer-vs.de/Buch/978-3-531-15851-8/Krise-und-Zukunft-des-Sozialstaates.html und Armut in einem reichen Land http://www.campus.de/wissenschaft/politikwissenschaft/Sozialpolitik.40412.html/Armut+in+einem+reichen+Land.99465.html Bücher zum Thema veröffentlicht hat.
Herr Butterwegge, auf welche ökonomischen und gesellschaftlichen Probleme hat die Politik mit den Hartz-IV-Reformen reagiert und ist die aktuelle Sozialpolitik dazu angetan, diese Schwierigkeiten zu meistern?
Christoph Butterwegge: Vordergründig hat die damalige Regierungskoalition unter dem Bundeskanzler Gerhard Schröder auf die mehr als zwei Jahrzehnte andauernde Massenarbeitslosigkeit reagiert, die ja trotz seines Versprechens sogar noch angestiegen war. Aufhänger für die Einsetzung der sogenannten Hartz-Kommission war ein Vermittlungsskandal der Bundesanstalt für Arbeit, die ihre Erfolgsbilanz geschönt hatte. Dabei waren und sind die statistischen Taschenspielertricks, mit denen die Arbeitslosenzahl nach unten manipuliert wird, viel gravierender auch wenn sie nicht illegal sind.
Für die ganz der neoliberalen Standortlogik verhaftete Koalition von SPD und Bündnis 90/Die Grünen ging es vor allem darum, die Konkurrenzfähigkeit des Wirtschaftsstandorts Deutschland zu stärken. Dies ist auch gelungen, sind doch die Reallöhne zwischen 2000 und 2010 in Deutschland gesunken. Das gesellschaftliche Kernproblem, dass viele Millionen Menschen keine ihrer Ausbildung entsprechende und angemessen bezahlte Arbeit finden, wurde damit aber keineswegs gelöst.
In der Öffentlichkeit wird Hartz IV als harte, aber erfolgreiche Reform verkauf, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/jan-fleischhauer-der-hartz-iv-irrtum-a-831125.html weil diese die Zahl der Arbeitslosen dauerhaft unter 3 Millionen zu drücken. Was sagen Sie dazu?
Der Hartz-IV-Irrtum
Eine Kolumne von Jan Fleischhauer
Nirgendwo wird so beständig Mitgefühl mit Sentimentalität verwechselt wie in der Sozialpolitik. Bislang ging das gut. Weil Deutschland ein reiches Land ist.
Info
Wie muss man sich den typischen Hartz-IV-Empfänger vorstellen? Vielleicht so: studierte Medizinerin mit 20 Jahren Berufserfahrung, jetzt arbeitslos, weil sie der Mann mit sechs Kindern im Stich ließ. Jeden Tag steht die Frau bei der Münchner Tafel, damit die Kinder etwas frisches Obst bekommen; dafür bringt der achtjährige Sohn in Mathematik eine "eins mit Sternchen" nach Hause.
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Ich habe mir das nicht ausgedacht. So steht es bei Kathrin Hartmann in ihrem Buch "Wir müssen leider draußen bleiben", dem aktuellsten Führer durch die "neue Armut".
Wenn es um das Leben am Rande der Gesellschaft geht, scheint es ein nahezu unstillbares Bedürfnis nach Verklärung der Verhältnisse zu geben. In den Halbjahresprogrammen der großen Publikumsverlage hat sich inzwischen ein eigenes Genre des Sozialkitsches etabliert, der die Leser in die Welt zwischen Sozialstation und Armenspeisung führt. Die Autoren entstammen zumeist der postmateriell orientierten Mittelschicht und damit einem Milieu, dessen Lebenszuschnitt nicht nur räumlich von dem ihrer Beobachtungsobjekte himmelweit entfernt ist. Ich frage mich gelegentlich, was diese Frauen (und es sind meist Frauen) dazu treibt, zwischen dem Geplänkel über die richtige Kita für Jonas und Marie die Armenviertel in Berlin oder Frankfurt in Augenschein zu nehmen. Vielleicht ist es Langeweile.
Vielleicht auch einfach das schlechte Gewissen, dass es ihnen so viel besser geht.
Literarischer Ablasshandel
Hartz-IV-Bezieher tauchen in diesem literarischen Ablasshandel ausnahmslos als Opfer der Verhältnisse auf, die ein böser Streich des Schicksals aus der Bahn geworfen hat und nun alles daran setzen, zurück ins Leben zu finden. Dass man auf die Armen nicht länger herabsieht, sondern ihnen mit Verständnis und Anteilnahme begegnet, darf man zu Recht als zivilisatorischen Fortschritt begreifen. Die Frage ist nur, ob man deshalb bei aller Rührung über die eigene Toleranz die Realität aus dem Blick verlieren muss. Es ist immer ein Fehler, Mitgefühl mit Sentimentalität zu verwechseln, leider wird beides nirgendwo so beständig durcheinander geworfen wie in der Sozialpolitik.
Seit Jahren liegt die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter, die nicht arbeiten und von staatlicher Unterstützung und damit der Schaffenskraft anderer abhängen, bei weit über drei Millionen, und zwar weitgehend unabhängig davon, wie sich die Wirtschaft entwickelt. Gerade haben die zuständigen Behörden wieder gemeldet, dass die Zahl der Arbeitslosen weiter gesunken ist, auf jetzt 2,97 Millionen, so wenig wie seit langem nicht mehr. Doch an den Leuten, die besonders dringend auf einen neuen Job angewiesen wären, weil sie schon lange jeder geregelten Arbeit entwöhnt sind, schwingt auch dieser Aufschwung vorbei.
Tatsächlich hat sich die Hartz-IV-Welt vom normalen Arbeitsmarkt weitgehend entkoppelt. In der Berichterstattung findet das kaum Beachtung, dabei ist diese Entwicklung zur Parallelgesellschaft für die Zukunft des Landes mindestens so bedeutend wie das Nebeneinander von Deutschen und Muslimen. Eine nahliegende Erklärung für die erstaunliche Stabilität des Transfermilieus wäre, dass viele, die sich mit der Stütze des Staates eingerichtet haben, dem Arbeitsmarkt nur pro forma zur Verfügung stehen. Entweder, weil es sich für sie nicht lohnt, einer ordentlichen Arbeit nachzugehen - oder weil sie dem Arbeitsleben schon so lange fern sind, dass sie Mühe haben, morgens beizeiten aufzustehen. Die zerstörerische Wirkung dauerhaften Nichtstuns ist von der Sozialforschung hinreichend beschrieben, daran liegt es nicht. Man sollte darauf nur nicht im Detail zu sprechen kommen.
Als ich neulich in einer Diskussion die Empfehlung gab, sich doch einmal mit Schulzahnärzten zu unterhalten, welche Vernachlässigung sich schon am Gebiss von Zweitklässlern ablesen lässt, weil die Eltern versäumt haben, den Kindern den Gebrauch der Zahnbürste zu erklären, trug mir das erst die Missbilligung des Publikums und dann den Tadel der "Süddeutschen" ein. "Stammtisch der Mittelschicht", war der anschließende Artikel überschrieben. Ich habe zwar nie verstanden, was gegen den Stammtisch spricht, zumal in Bayern. Ich halte das für einen Ort geselligen Beisammenseins, aber dennoch war damit irgendwie klar, dass ich mich mit meinem Hinweis daneben benommen hatte.
Mechanismen des deutschen Sozialstaats
Deutschland ist ein reiches Land, deshalb konnte es sich bislang die Pazifizierung seiner Unterschicht durch Geldtransfers leisten. Rund 50 Milliarden geben Bund und Kommunen im Jahr für Hartz-IV aus, wobei nur die Hälfte an die Empfänger als Geldleistung fließt. Die andere Hälfte geht in die diversen Umschulungs- und Bildungsmaßnahmen, denen sich jeder Hartz-IV-Empfänger von Zeit zu Zeit unterziehen muss, um seine Ansprüche zu wahren. Wer die Mechanismen des deutschen Sozialstaats kennt, sieht sofort, dass hier viele Interessen im Spiel sind.
Zum Glück gibt es immer noch genug Menschen, die lieber arbeiten gehen, als Zuhause ihre Tage zu vertrödeln, auch wenn sie davon finanziell nicht wirklich etwas haben. Wer heute als Vorstand einer vierköpfigen Familie an der Ladenkasse steht oder Umzugskisten schleppt, könnte morgen den Job quittieren, ohne dass er schlechter da stände. Auf 1800 Euro belaufen sich derzeit die Zuwendungen für einen Hartz-IV-Haushalt mit zwei Kindern - sind mehr als zwei Kinder im Haus, sind es noch einmal deutlich mehr.
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Die Realitäten des vereinten Europas könnten allerdings dazu führen, dass diese Form der Sozialpolitik schon bald an ihre Grenzen stößt. Was hierzulande als Leben unterhalb der Armutsgrenze gilt, ist in anderen Teilen ein Stück vom Paradies. Im SPIEGEL stand neulich ein ausgezeichneter Report über die Zuwanderung aus den Armenhäusern in Rumänien und Bulgarien, die erst seit ein paar Jahren ebenfalls EU-Mitglieder sind. Die wenigsten machen sich eine Vorstellung, welche Dynamik hier in Gang gesetzt wurde.
Wer darauf hofft, dass man den neuen Mitbürgern die Leistungen streichen könnte, hat die Rechnung ohne den Europäischen Gerichtshof gemacht. http://www.spiegel.de/thema/europaeischer_gerichtshof/ Dieser Diskriminierung haben die Richter vorsorglich den Riegel vorgeschoben: Der Sozialsatz in Deutschland ist für alle gleich, egal ob sie aus Neukölln kommen oder einem Armendorf in der Nähe von Bukarest.
Armut ist unteilbar, das gilt auch für Hartz IV.
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/jan-fleischhauer-der-hartz-iv-irrtum-a-831125.html
Christoph Butterwegge: Wichtiger dafür waren neben der genannten Schönung von offiziellen Statistiken die abziehende Weltkonjunktur und die Stärke der deutschen Exportindustrie, worunter jedoch besonders die südeuropäischen EU-Staaten zu leiden hatten, die ihre steigenden Importe über Kredite finanzieren mussten und heute Schwierigkeiten haben, ihre Schulden zu tilgen.
Welches Ziel verfolgen Politik und Wirtschaft nun eigentlich mit Hartz IV?
Christoph Butterwegge: Die Verwaltung der Arbeitslosigkeit und die Arbeit sollten billiger werden. Durch den von Hartz IV ausgehenden Druck auf Langzeitarbeitslose und Geringverdiener, die damit bei vielen Belegschaften erzeugte Angst vor dem sozialen Absturz, die Förderung der Leiharbeit und die Subventionierung der Unternehmen durch "Kombi-Löhne" der sogenannten Aufstocker wurde massives Lohndumping betrieben.
Gibt es statistische Erhebungen, wie viele Menschen wegen Hartz IV gestorben sind, weil sie sich zum Beispiel nach der Sanktionierung
http://www.heise.de/tp/artikel/31/31162/1.html durch die Job-Center die Heizkosten oder lebensnotwendige Medikamente nicht mehr leisten konnten oder wegen der aussichtslosen Lage Suizid verübt haben?
Aushungern und Fordern
Reinhard Jellen 22.09.2009
Interview mit Claudia Daseking und Solveig Koitz über die rechtswidrige Hartz IV-Sanktionspraxis. Teil 1
Seit 2005 hat sich in Deutschland die Armut, die Kinderarmut und die Anzahl der Tafeln verdoppelt. Der Niedriglohnsektor hat sich innerhalb der letzten zwanzig Jahre gleichfalls dupliziert. Während Einkommen aus Gewinnen und Vermögen um 36 Prozent zugenommen haben, bleibt die Lohnquote mit 66,2 Prozent auf einem historischen Tiefstand: Neun Prozentpunkte unter dem Spitzenniveau von 1974.
Ökonomische Entmachtung und gravierende Entrechtung
Maßgeblicher Türöffner für diese Entwicklung sind die unter dem Begriff Hartz IV subsummierten Reformen des Arbeitsmarkts aus dem Jahr 2005. Mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und der Einführung einer Grundsicherung unterhalb des ehemaligen Sozialhilfeniveaus, indem staatliche Einmalleistungen der Sozialämter durch unzureichende Pauschalen (PDF) ersetzt wurden und der (teilweisen) Verringerung des Schonvermögens wurde bei Langzeitarbeitslosen eine verheerende Armutsspirale in Gang gesetzt. Doch damit hören die Zumutungen für Bezieher des Arbeitslosengelds II nicht auf, denn mit der ökonomischen Entmachtung geht eine gravierende Entrechtung einher. De facto nähert man sich durch die exponentielle Ausweitung der Zumutbarkeitskriterien für Arbeit hart der Grenze zur Zwangsarbeit. Die Alg-II-Bezieher bewegen sich nicht mehr als Rechtssubjekte, als Staatsbürger in der Gesellschaft, sondern werden zu reinen Pflichterfüllern degradiert. Sie sind auf den Status von Metöken und Heloten herabgesunken und werden - von Politikern wie Wolfgang Clement als "Parasiten" beschimpft - für die öffentliche Hetzjagd freigegeben.
Großzahl der Sanktionen widerrechtlich
Zusätzlich zu dieser allgemeinen Machtlosigkeit und Erniedrigung sind Langzeitarbeitslose noch der Willkür der Behörden ausgesetzt. Denn die JobCenter und ARGEN haben das Recht, die Zahlungen an Hartz-IV-Empfänger bis zum Wegfall der Leistung einzuschränken, falls diese ihren Anweisungen nicht Folge leisten. Letzteres ist für die Arbeitslosen durchaus schwieriger, als sich das anhört: Schließlich sind die Alg-II-Regelungen in etwa so kompliziert, wie das deutsche Steuerrecht, allerdings mit dem feinen Unterschied, dass Wohlbetuchte mit Hilfe juristischer Spezialisten Ausnahmeregelungen und Steuerschlupflöcher für sich ausfindig und zu ihrem Vorteil nutzen können, während man den Alg II-Bezieher in einem Dschungel voller Fußangel-Paragrafen und unklarer Regelungen, die sich mitunter gegenseitig widersprechen, alleine stehen lässt. Sanktionen sind nicht nur, aber auch ein Mittel, um den Sparvorgaben der Bundesagentur für Arbeit nachzukommen.
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Eine Großzahl davon ist rechtswidrig, wie die Anzahl der gewonnen Prozesse gegen die Maßnahmen beweist. Diese Anordnungen sind keine Bagatellmaßregeln, sondern gehen an die Existenz: In der Broschüre "Wer nicht spurt, kriegt kein Geld - Sanktionen gegen Hartz-IV-Beziehende - Erfahrungen, Analysen, Schlussfolgerungen" (PDF), welche von der Berliner Kampagne gegen Hartz IV herausgegeben wurde, ist zum Beispiel von einem Fall zu lesen, in dem ein Diabetiker sich aufgrund der Sanktionen kein Insulin und auch kein Essen mehr leisten konnte. Auch sind die Umstände der darin beschriebenen Sanktionen oftmals grotesk: Ein Epileptiker sollte auf einem Baugerüst arbeiten, eine Hartz IV-Bezieherin wurde vom Job-Center dazu angehalten, die "Nebentätigkeit" Prostitution gegen ihren Willen fortzusetzen.
Über die drakonischen Strafen, die das Gesetz vorschreibt, und die zum Teil lebensgefährliche Sanktionierungspraxis von JobCentern und ARGEN sprach Telepolis mit Claudia Daseking und Solveig Koitz, welche die Broschüre mitverfasst haben und Mitinitiatorinnen des "Bündnis für ein Sanktionsmoratorium" (PDF) sind, einer erstaunlich breiten Plattform namhafter Vertreter aus Politik, Erwerbsloseninitiativen, Wissenschaft und Kirche. Solveig Koitz arbeitet seit Jahren als Sozialberaterin für Hartz-IV-Beziehende.
"Sanktionen kürzen die Leistungen bis unter das Existenzminimum"
Die Sanktionsfälle gegen Hartz-IV-Bezieher in Ihrer Broschüre lesen sich geradezu kafkaesk. Haben Sie besonders krasse Beispiele ausgesucht?
Claudia Daseking: Nein, die Fälle sind ein Querschnitt des alltäglichen Hartz-IV-Wahnsinns, auch wenn die meisten Fälle nicht derart grotesk sind wie die von ihnen genannten Beispiele. Wenn Sie sich im Internet die Unterzeichnerliste unseres Aufrufs für ein Sanktionsmoratorium , also ein Aussetzen der Hartz-IV-Sanktionen, angucken, können Sie sehen, wie viele Leute aus sozialen Berufen den Aufruf unterschrieben haben, wie viele Leute aus caritativen Einrichtungen, Sozialberatungen, Schuldnerberatungen, Leute, die täglichen Umgang mit dem Leid haben. Dann sehen Sie, dass wir ganz dicht dran sind an der Wirklichkeit.
2008 gab es 780.000 Sanktionen
Was ist denn so schlimm an den Sanktionen?
Solveig Koitz: Sanktionen kürzen die Leistungen bis unter das Existenzminimum. Um Missverständnissen vorzubeugen: Sanktionen betreffen nicht Fälle von Leistungsmissbrauch, sondern es geht um Menschen, die auf die niedrigen Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind und denen man irgendein Fehlverhalten vorwirft. Bei vielen Langzeitarbeitslosen, die über keinerlei Ressourcen verfügen und zum Beispiel kein Schonvermögen haben, führen diese Geldkürzungen sofort in blanke Not, in staatlich verordnete Not - wie man sie sich für Deutschland, einem Land mit Sozialstaat nicht vorstellen kann, wenn man es nicht mit eigenen Augen gesehen hat.
Im vergangenen Jahr wurden mehr als 780.000 Sanktionen verhängt. Es mag wenig klingen, dass "nur" etwa drei Prozent der Alg-II-Beziehenden sanktioniert werden - wie es immer wieder verharmlosend und beschwichtigend angeführt wird, so auch vom Vorstandsmitglied der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt. Man muss sich aber vergegenwärtigen, wie viele Menschen dies massiv trifft. So mussten im Jahr 2008 knapp 100.000 junge Erwachsene - die Altersgruppe der unter 25jährigen wird besonders hart sanktioniert - einen Teil des Jahres völlig ohne Geldmittel auskommen, in der Regel drei Monate lang, und haben von den JobCentern, wenn überhaupt, nur Lebensmittelgutscheine erhalten.
Ein zweiter Punkt ist die Hilflosigkeit, wenn man dem Sanktionsapparat ausgeliefert ist. Das ist entwürdigend. Die vielen erfolgreichen Klagen und Widersprüche dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass weniger als zehn Prozent der Bestraften von diesen Rechtsmitteln Gebrauch machen. Über die meisten Menschen brechen die Sanktionen wie eine Katastrophe herein, und die Kraft geht dafür drauf, die Grundversorgung und drum herum den Alltag neu zu organisieren und die Sanktion psychisch zu verkraften. Für den Rechtsweg braucht man Energie und Zeit, außerdem Wissen oder zumindest Kontakte.
Druck auf die regulär Beschäftigten
Claudia Daseking: Und drittens wirken die Sanktionen nicht nur auf die Sanktionierten. Alle, die in die Nähe des Hartz-IV-Regimes kommen, stehen unter dem Druck, ganz schnell irgendeine Arbeit anzunehmen, egal um welchen Preis. So werden Menschen für den Niedriglohnsektor "zugerichtet". Und diese Bedrohung spüren auch die noch Erwerbstätigen und sind zu vielerlei Zugeständnissen bereit. Statt "Arbeit muss sich wieder lohnen" ist das Motto von Hartz IV eigentlich: "Arbeitslosigkeit muss weh tun". Als Gerhard Schröder den Wirtschaftsgrößen in Davos 2005 verkündete, Deutschland habe einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in Europa gibt, hat er dies als Erfolg des Umbaus des Sozialstaates, als unmittelbaren Erfolg von Hartz IV proklamiert.
"Fast jede Arbeit zumutbar"
Können Sie uns kurz schildern, in welchen Fällen Sanktionen gegen Hartz-IV-Beziehende verhängt werden?
Solveig Koitz: Die landläufige Meinung ist ja, sanktioniert würden die "Drückeberger", also die, die sich weigern würden, Arbeit anzunehmen. Es ist tatsächlich einer der Gründe für Sanktionen, wenn sogenannte "zumutbare" Arbeit abgelehnt, vereitelt oder abgebrochen wird. Ein Blick in die Sanktionsstatistik zeigt aber, dass dies ein eher seltener Sanktionsgrund ist, der nur etwa zehn Prozent der Fälle ausmacht. Dazu muss man auch wissen, dass schon ein Verhalten im Bewerbungsverfahren, das einem Arbeitgeber aus irgend einem Grund nicht gefällt, zu einer Sanktion führen kann. Hinzu kommt, dass fast jede Arbeit als zumutbar gilt, egal woher man beruflich kommt und wo man hin will, und fast egal, wie niedrig der Lohn ist, nur Lohnwucher darf es nicht sein. Aber nicht einmal daran halten sich die JobCenter und es werden Sanktionen verhängt, wenn sich Erwerbslose weigern, für Wucherlohn zu arbeiten. Wenn solche Sanktionen vor Gericht landen, werden sie aufgehoben, zum Beispiel in einem Fall, wo eine Frau Arbeit bei einem Textildiscounter für 4,50 € Stundenlohn nicht antreten wollte.
Arbeitsverweigerung ist also ein seltener Sanktionsgrund. Wofür werden die meisten Sanktionen verhängt?
Solveig Koitz: Über die Hälfte der Sanktionen betrifft Meldeversäumnisse, also wenn jemand zu einem Termin beim JobCenter nicht erscheint oder zu spät kommt. Der zweithäufigste Sanktionsgrund sind Verstöße gegen die sogenannte Eingliederungsvereinbarung, das waren 2008 etwa 17 Prozent der Sanktionen, zum Beispiel wenn zu wenig Bewerbungen vorgelegt wurden. Nur ein, zwei Bewerbungen weniger als in der Eingliederungsvereinbarung festgelegt, also zum Beispiel achtzehn Bewerbungen im Monat statt 20, und eine Sanktion wird fällig.
"Zwangsvertrag"
Eine Zwischenfrage: Eine Eingliederungsvereinbarung, was ist das? Und zwanzig Bewerbungen im Monat, ist das realistisch? Bewerbungen müssen doch zielgerichtet sein, wenn man damit Erfolg haben will ...
Solveig Koitz: Da sprechen Sie mehrere wunde Punkte an. Bewerbungen sind nicht billig und die Kosten dafür nicht im Regelsatz enthalten. Die JobCenter übernehmen aber Bewerbungskosten nur in bescheidener Höhe. Und wie viele Alg-II-Beziehende wagen es angesichts angedrohter Sanktionen, auf der Kostenübernahme der angeordneten Bewerbungen zu bestehen und im Ablehnungsfall weniger Bewerbungen zu schreiben? Die JobCenter dürfen eigentlich keine Bewerbungen verlangen, deren Kosten sie nicht erstatten. In der Praxis geschieht das aber.
Was die Eingliederungsvereinbarungen betrifft: Diese müssen die JobCenter mit allen Alg-II-Beziehenden abschließen. Darin sollen, vereinfacht gesagt, für beide Seiten ihre im Gesetz allgemein angelegten Pflichten konkretisiert werden. Dabei ist schon das Wort "Vereinbarung" irreführend, "Zwangsvertrag" wäre hierfür eine passendere Bezeichnung, denn die Unterzeichnung steht der einen Seite nicht frei, die Unterschriftsverweigerung ist laut Gesetz ihrerseits ein Sanktionsgrund. Dabei wissen alle, die nur ein Fünkchen von Sozialarbeit verstehen, dass in diesem Bereich die unbedingte Freiwilligkeit der Kooperation eine essentielle Voraussetzung dafür ist, dass die Zusammenarbeit zwischen Betreuenden und Klienten gelingt, und dass die vereinbarten Ziele bestmöglich erreicht werden. Was diese Eingliederungs"vereinbarung" laut Gesetz enthalten und wie sie zustande kommen soll, und wie das demgegenüber in den JobCentern gehandhabt wird, das sind weitere Probleme.
"Überfordernde Pflichten"
Claudia Daseking: Ja, zum Beispiel ist es der Normalfall, dass einem der fertige Entwurf zur sofortigen Unterschrift vorgelegt wird, ohne vorherige Besprechung, was darin aufgenommen werden sollte. Unter Umständen steht da viel Unverständliches drin, zum Beispiel lange Gesetzeszitate. Bei einem der in unserer Broschüre Porträtierten war es so, dass er überhaupt nicht verstanden hat, was er da unterschrieben hat - erklärt hat es ihm im JobCenter niemand, obwohl er krankheitsbedingte Auffassungsschwierigkeiten hat, von denen das JobCenter wusste.
Zum Widersinn von Eingliederungsvereinbarungen, die überfordernde Pflichten enthalten und so zwangsläufig zu Sanktionen führen, nannte die Mitarbeiterin einer Sozialberatungsstelle, die wir im Rahmen unserer Erhebung befragt hatten, ein Beispiel aus ihrem Erfahrungsbereich: "Wenn einem 20jährigen Obdachlosen, dessen Leben chaotisch und instabil ist und der psychisch nicht belastbar ist, zehn Bewerbungen im Monat abverlangt werden, muss man sich nicht wundern, dass der scheitert."
Verstoß gegen Dienstanweisung
Das Bündnis für ein Sanktionsmoratorium, in dem Sie mitwirken, hat soeben einen offenen Brief (PDF) an den Vorstand der Bundesagentur für Arbeit geschrieben, weil durch die JobCenter entgegen einer BA-Anweisung weiterhin Sanktionen verhängt werden, wenn Alg-II-Beziehende ihre Unterschrift unter eine Eingliederungsvereinbarung verweigern. Sie fordern Aufklärung darüber, wie es dazu kommen konnte und sofortige Abhilfe. Können Sie mehr zum Hintergrund sagen?
Solveig Koitz: : Seit Dezember 2008 gibt es die Dienstanweisung der Bundesagentur für Arbeit , dass die Unterschriftsverweigerung unter die Eingliederungsvereinbarung, die laut Gesetz ein Sanktionsgrund ist, nicht mehr sanktioniert werden soll. Denn die Bundesregierung hat nach entsprechenden Gerichtsurteilen in der Begründung zu einer geplanten Gesetzesänderung eingeräumt, dass bei der jetzigen Gesetzesregelung gegen die Verhältnismäßigkeit verstoßen wird, die ein Verfassungsgrundsatz ist. Im Vorgriff auf diese geplante Gesetzesänderung, die übrigens immer noch nicht erfolgt ist, hat dann die BA diese Dienstanweisung herausgegeben.
Trotzdem werden in den JobCentern in nahezu unveränderter Höhe Sanktionen verhängt, wenn jemand die Unterschrift unter eine Eingliederungsvereinbarung verweigert hat, wie in den aktuellen Sanktionsstatistiken der BA zu sehen ist. Auch dieses Beispiel zeigt, wie notwendig ein Sanktionsmoratorium ist, um dem Handeln der JobCenter Einhalt zu gebieten.
Gibt es denn noch weitere Sanktionsgründe?
Solveig Koitz: Der dritthäufigste Sanktionsgrund - im Jahr 2008 waren es 11 Prozent der Fälle - ist die Weigerung, Eingliederungsmaßnahmen wie Ein-Euro-"Jobs", Bewerbungstrainings und unbezahlte Praktika anzutreten oder fortzuführen. Im Gesetz sind weitere Sanktionsgründe festgelegt - die Pflichten von Hartz-IV-Beziehenden erschöpfen sich ja nicht im bisher Genannten. In der Sanktionspraxis kommen diese Fälle, wie zum Beispiel die Fortsetzung unwirtschaftlichen Verhaltens, nur selten vor. - Die Sanktionsstatistik der Bundesagentur für Arbeit sagt aber nichts darüber aus, ob die Sanktionierten tatsächlich die genannten Pflichtverletzungen begangen haben oder ob ihnen ein Fehlverhalten nur unterstellt wurde. Auf den hohen Anteil rechtswidriger Sanktionen wollen wir noch zu sprechen kommen.
"Bescheinigung für Bettlägerigkeit gefordert"
Sie sagten, die meisten Sanktionen werden wegen Meldeversäumnissen verhängt. Aber kann man nicht erwarten, dass jemand, der staatliche Leistungen bekommt, zu den Terminen bei der Behörde erscheint, und zwar pünktlich?
Solveig Koitz: Dass man irgendwo zu spät kommt, sollte natürlich nicht vorkommen, ist aber den meisten von uns schon mal passiert. Wenn man krank ist und deshalb nicht zu einem Termin ins JobCenter gehen kann, hat man zwar die Möglichkeit, einen Krankenschein zu schicken, aber es dauert mehrere Tage, bis die Post innerhalb des JobCenters auf dem richtigen Schreibtisch landet - in Berlin sind es durchschnittliche sechs Tage, wie uns ein JobCenter-Mitarbeiter verriet. Bis dahin kann schon das Sanktionsverfahren eingeleitet worden sein und muss dann mühsam wieder gestoppt werden. Dazu kommt, dass immer wieder JobCenter normale Krankenscheine nicht als Entschuldigung gelten lassen wollen, sondern Bescheinigungen für Bettlägerigkeit verlangt haben, die Ärzte normalerweise nicht ausstellen. Dieses Vorgehen hat die Bundesagentur für Arbeit inzwischen in einer Dienstanweisung als unzulässig gewertet.
Es gibt auch Menschen, die auf Grund ihrer bisherigen Erfahrungen mit dem JobCenter oder mit Behörden derart Angst davor haben, was im JobCenter mit ihnen gemacht wird, dass sie trotz der Sanktionsdrohung nicht zu einem Termin gehen. Und dann gibt es diejenigen, die wegen ernster psychischer Probleme oder einer Suchterkrankung nicht einmal ihren Alltag bewältigen können und ihre gesamte Post nicht zur Kenntnis nehmen. Das Klischee, dass Leute einfach zu faul sind, um morgens aufzustehen und ins JobCenter zu gehen, mag vereinzelt zutreffen, aber in vielen Fällen dürfte es an der Realität vorbeigehen.
"Schwerwiegende Versorgungslücken"
Claudia Daseking: Natürlich gibt es auch unter Erwerbslosen Leute, die "total verpeilt" sind, die ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen und die nicht mit Behörden umgehen wollen oder können, aus welchen Gründen auch immer. Aber kann es ein geeigneter Umgang damit sein, dass diesen Menschen das Existenzminimum gekürzt wird? Wir finden: nein. So ein Vorgehen mutet, gelinde gesagt, an wie der Versuch hilfloser Eltern, ihr unartiges Kind zur Einsicht zu bewegen, indem das Spielzeug weggenommen und das Kind ohne Abendbrot ins Bett geschickt wird.
Nun ist das Leben als Hartz IV-Bezieher ohnehin kein Zuckerschlecken. Da muss es doch dramatisch sein, wenn das Geld noch weiter gekürzt wird...
Claudia Daseking: So ist es. Das Arbeitslosengeld II soll das Existenzminimum abdecken und es ist zweifelhaft, ob das überhaupt gewährleistet ist. Es liegt auf der Hand, dass schwerwiegende Versorgungslücken entstehen, wenn an diesem Existenzminimum auch noch gekürzt wird. Diejenigen unter den Sanktionierten, denen vielleicht noch das physische Existenzminimum verbleibt, werden völlig vom gesellschaftlichen Leben abgeschnitten - oder auch sie hungern, um nicht darauf zu verzichten. Menschliche Existenz ist doch mehr als das nackte Überleben.
Wenn ein Familienmitglied sanktioniert wird, sind alle im Haushalt davon betroffen, schließlich werden im Kühlschrank keine Trennfächer eingezogen. Wenn der Regelsatz eines Familienmitglieds komplett gestrichen wird oder sogar dessen Wohnkosten nicht übernommen werden, ist das besonders gravierend. Dann müssen zum Beispiel Eltern von den Regelsätzen ihrer Kinder leben. Wenn Mietschulden entstehen, trifft dies ebenso die nicht sanktionierten Familienmitglieder. Das ist Sippenhaft.
Komplette Streichung der Leistungen
Wie hoch fallen denn die Kürzungen des Hartz-IV-Geldes aus?
Solveig Koitz: Das reicht von zehn Prozent des Regelsatzes für das erste Mal, wenn man einen Termin im JobCenter verpasst, über 30 Prozent des Regelsatzes, wenn einem das erste Mal ein anderer Pflichtverstoß zur Last gelegt wird - vorausgesetzt, man ist mindestens 25 Jahre alt, den unter 25jährigen wird schon beim ersten derartigen Pflichtverstoß 100 Prozent vom Regelsatzes gekürzt. Bei wiederholten Pflichtverletzungen geht das ruckzuck bis zur vollständigen Streichung des gesamten Alg II, also von Regelsatz, Wohnkosten und Sozialversicherungsbeiträgen. Die Kürzungen erfolgen jeweils für drei Monate.
http://www.heise.de/tp/artikel/31/31162/1.html
Christoph Butterwegge: Solche Erhebungen sind mir nicht bekannt, lassen sich aber auch nur schwer durchführen. Da solche Kausalzusammenhang nur schwer nachzuweisen sind, dürfte es auch kaum möglich sein, entsprechende Statistiken zu erstellen. Das soziale Klima der Bundesrepublik hat sich durch Hartz IV und andere Maßnahmen zum "Um-" beziehungsweise Abbau des Wohlfahrtsstaates, wie man ihn bis dahin kannte, allerdings spürbar verschlechtert. In das Leben der von Hartz IV unmittelbar Betroffenen und Bedrohten sowie ihrer Familien greifen die Regelungen dieses Gesetzespaketes drastisch ein. Die dadurch verursachten gesundheitlichen, psychischen und psychosozialen Beeinträchtigungen können in Einzelfällen ohne Zweifel lebensgefährdend wirken.
Warum ist in den Medien davon so wenig zu erfahren und wieso hat man sich hier bis auf ganz wenige Ausnahmen auf die Hetze gegen Hartz-IV-Bezieher verlegt? Zum Beispiel ist im Grunde jemand, der von seiner Arbeitslosenagentur sanktioniert wird, erst einmal von lebensnotwenigen Ressourcen abgeschnitten. Thematisiert wird aber in den Medien immer die angeblich hohe Zahl von Sozialbetrügern ..
http://www.tz-online.de/aktuelles/bayern/schlossherr-kassierte-hartz-fuhr-rolls-royce-2327194.html
Schlossherr kassierte Hartz IV und fuhr Rolls Royce
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22.05.12
Bayern
Schlossherr kassierte Hartz IV und fuhr Rolls Royce
Ebelsbach - Schlossbesitzer Dominique A. (45) hat fast zwei Jahre lang Hartz IV kassiert und einen Rolls Royce gefahren. Wir sein bayerisches Anwesen jetzt noch verschenkt?
Dominique A. (45) ist ein Mann mit großartigem Auftreten und ein Mann, dem die Eloquenz in die Wiege gelegt wurde. Im Jahr 2000 kaufte das männliche Fotomodell für zwei Millionen Mark das unterfränkische Renaissance-Schloss Ebelsbach – und zog alsbald samt den Doggen und dem Pop-Art-Rolls-Royce in eine 400 Quadratmeter-Wohnung im Schloss ein. Dort lebte er auch, als er am 23. Mai 2008 bei der Kölner ARGE für sich Hartz IV beantragte. Fast zwei Jahre kassierte der Schlossherr nun unberechtigt 12 165,84 Euro. Bis ein mysteriöser Großbrand diese Machenschaften ans Licht brachte …
Die nobelsten Kaufhäuser: Hier kann man den Luxus kaufen
Noch im April hatte die tz berichtet, dass es in Ebelsbach ein Schloss zu verschenken gebe! Der Eigentümer könne die Sanierungskosten in Höhe von zehn Millionen Euro nach dem Großfeuer vom 10. September 2009 nicht zahlen. Da wusste noch niemand, dass Dominique A. sich schon kurz darauf wegen Betrugs vor dem Amtsgericht Köln verantworten musste.
In seinem Antrag auf Sozialhilfe hatte er nicht nur sein Schloss, sondern auch eine Uhrensammlung für 150 000 Euro, ein Hausboot in Hamburg, den Rolls-Royce und seinen Zugriff aufs Konto der Mama verschwiegen – über das er auch Luxusartikel, Restaurant- und Hotelrechnungen bezahlte. „Ich träumte davon, Schloss Ebelsbach wieder in neuem Glanz erstrahlen zu lassen und bat meine Mutter, mir zu helfen“, rechtfertigt A. heute sein Tun. Zudem habe er unter dem Einfluss eines starken Schmerzmittels gestanden.
Der Richter in Köln hielt ihm sein Geständnis zugute und verurteilte ihn zu neun Monaten Haft auf Bewährung. Bedingung: Der Schlossherr macht den Schaden wieder gut.
Das würde man sich in Ebelsbach nur zu gerne auch wünschen. Noch heute wundert sich Bürgermeister Werner Ziegler (62), wie man dem Schlossherrn solange gewähren lassen konnte: „Er trat immer geschniegelt auf, immer feine Anzüge. Mal kam er im Bentley, mal mit dem Daimler.“ Und überhaupt erst die hochfliegenden Pläne – im Schloss sollte ein Fünf-Sterne-Hotel eingerichtet werden, dazu auch gleich ein Businesscenter. Wie sich herausstellte, waren diese allesamt nur Luftschlösser. Ziegler: „Dafür spielte er beim Altherren-Fußball mit, als ginge es auf dem Platz um die Champions League. Auch die Brotzeit hat er gern genossen. Doch in die Kasse gab er nie etwas. Er war ein richtiger Absahner!“
Das ist allerdings juristisch nicht von Bedeutung. Zudem wurden Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Bamberg wegen Brandstiftung eingestellt, mit der Begründung: keine hinreichenden Verdachtsmomente.
Dominique A. hat sich nach Mallorca zurückgezogen, wo er in den 90er-Jahren die Wirtschaftsförderung leitete. Er sagt heute: „Schloss Ebelsbach hat mir kein Glück gebracht.“ Stattdessen saniert er nun mit Freunden ein Ferienhaus. Es nennt sich Casa Phönix. Vielleicht deswegen, weil A. eines Tages selbst wie Phönix aus der Asche aufsteigen könnte?
Was mit dem Schloss passiert, ist weiter unklar. Ob und wer sich es sich schenken lässt, wird sich zeigen ...
tz
http://www.tz-online.de/aktuelles/bayern/schlossherr-kassierte-hartz-fuhr-rolls-royce-2327194.html
Christoph Butterwegge: Für mich sind Klischees wie das der Griechen, die faul in der Sonne liegen, statt fleißig zu arbeiten und das der Hartz-IV-Empfänger, die faul in der Hängematte unseres Sozialstaates liegen, ohne sich um eine Stelle zu bemühen, ein Austragungsmodus gesellschaftlicher Verteilungskämpfe. Indem man die von Arbeitslosigkeit und Armut betroffenen Menschen in der Öffentlichkeit selbst für ihre Misere verantwortlich macht, werden die in Wirklichkeit politisch und ökonomisch Verantwortlichen entlastet sowie die grundlegenden Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse verschleiert. Das ist umso weniger verwunderlich, als zumindest die privaten Massenmedien davon unmittelbar profitierenden Verlegern, Konzernen und Großaktionären gehören.
Können Sie uns eine Abschätzung abgeben, wie unangenehm es sich unter Hartz IV im EU-weiten Vergleich lebt?
Christoph Butterwegge: Deutschland ist mit Gerhard Schröders "Agenda 2010", den sogenannten Hartz-Gesetzen zur Deregulierung des Arbeitsmarktes und der Erhöhung des gesetzlichen Eintrittsalters durch die zweite Große Koalition auf Bundesebene vorangegangen, exportiert wird diese Politik der sozialen Eiseskälte gegenwärtig im Rahmen der Finanz-, Wirtschafts- und Währungskrise allerdings mit dem dafür nötigen Druck auch in die europäischen Partnerländer. "Eigenverantwortung" statt Solidarität heißt es. Nach der Hartz-IV-Logik geht es heute Griechenland gegenüber um Fordern und gegebenenfalls Hinausbefördern aus der Euro-Zone.
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Immer wieder wird der juristisch gebotenen Abmilderung des Hatz IV-Elends von Seiten der Politik ein Riegel vorgeschoben. So wird das Betreuungsgeld
http://www.sueddeutsche.de/politik/kein-betreuungsgeld-fuer-hartz-iv-bezieher-wahlfreiheit-haben-nur-die-gutverdienenden-1.1341295
für Hartz IV-Bezieher wohl aus angeblich rechtlichen Gründen verweigert, dabei müsste dieses einfach nur nicht als Einkommen gewertet werden, wie es zum Beispiel beim Pflegegeld geschieht. Gleichzeitig schmeißt der Staat den Banken qua Rettungsschirm ohne jegliche Gegenleistung Milliardenbeträge hinterher. Wie viel Ungerechtigkeit hält unser Gemeinwesen aus?
Christoph Butterwegge: Das von der CSU durchgesetzte, aber sogar innerhalb der Union weiter höchst umstrittene Betreuungsgeld ist wahrscheinlich die unsinnigste Sozialleistung seit Christi Geburt. Dass man es ausgerechnet jenen Familien vorenthalten will, die finanzieller Unterstützung am meisten bedürfen, zeigt deutlich, wie unsozial die Regierungspolitik der CDU/CSU/FDP-Koalition ist. Bezüglich der sozialen Ungerechtigkeit nähert sich die Bundesrepublik den USA und anderen weniger entwickelten Wohlfahrtsstaaten immer mehr an. Auch die Folgen dürften ähnlich sein: Es droht ein Zerfall der Gesellschaft; besonders die Metropolen unseres Landes müssen künftig mit noch mehr Drogenmissbrauch, Brutalität und Kriminalität rechnen.
Kein Betreuungsgeld für Hartz-IV-Bezieher "Wahlfreiheit haben nur die Gutverdienenden"
25.04.2012, 13:42
Von Barbara Galaktionow
Hartz-IV-Familien sollen nicht vom Betreuungsgeld profitieren. Das plant die schwarz-gelbe Regierungskoalition und behauptet zugleich, das gehe rechtlich gar nicht anders. "Nonsens", heißt es von Seiten der Sozialverbände. Die Koalition gönne den Arbeitslosen die Leistung einfach nicht.
Krippe oder privat geregelte Betreuung? Mit dem geplanten Betreuungsgeld will die Regierung für Eltern "Wahlfreiheit" schaffen. Mama und Papa sollen selbst entscheiden, auf welche Weise ihr Kleinkind am besten versorgt wird.
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Doch eine Gruppe soll nach dem Willen der schwarz-gelben Koalition keine Wahlfreiheit haben: die Hartz-IV-Empfänger. Ihnen soll das Betreuungsgeld zwar ausgezahlt, dann aber sogleich wieder auf den Hartz-IV-Bezug angerechnet, sprich: abgezogen werden. Das sei rechtlich gar nicht anders möglich, heißt es aus Regierungskreisen. Durch ein höheres Einkommen von zunächst 100, später 150 Euro Betreuungsgeld müsse zwangsläufig der Hartz-IV-Satz sinken.
"Alles Nonsens", sagt Ulrich Schneider, Chef des Paritätischen Wohlfahrtsverbands. "Die Koalition traut sich nicht zuzugeben, dass sie Hartz-IV-Beziehern dieses Geld schlicht nicht gönnt." Rechtlich sei eine Auszahlung der neuen Leistung auch an Hartz-IV-Empfänger nicht nur möglich, sondern sogar geboten.
Es gebe in der Hartz-IV-Gesetzgebung einen Passus, in dem geregelt werde, was alles als Einkommen gelte. Wenn das Betreuungsgeld hier nicht aufgenommen würde, müsse es auch nicht vom Arbeitslosengeld II abgezogen werden. Dass dies möglich sei, zeigten Leistungen wie das Pflegegeld oder Entschädigungsleistungen wie zum Beispiel für Kriegsopfer, die bewusst nicht angerechnet würden. Auch das Elterngeld sei ja bis zum Sparpaket 2010 an Hartz-IV-Bezieher ausgezahlt worden.
Das Betreuungsgeld sei kein Einkommen, sondern eine "Anerkennungsprämie", die allein deshalb gezahlt werde, weil Menschen ihr Kind nicht in öffentliche Kindertagesstätten schickten. Daher halte der Paritätische Wohlfahrtsverband eine Ungleichbehandlung für verfassungsrechtlich bedenklich.
Die Hilflosigkeit der Bundesregierung
Auch das Argument, dass hier falsche Anreize beseitigt würden, wonach gerade sozial benachteiligte Kinder des Geldes wegen zu Hause versorgt würden, lässt Schneider nicht gelten. Studien aus Thüringen und Schweden, wo es bereits ein Betreuungsgeld gibt, hatten solche Effekte aufgezeigt.
"Dieses Argument würde dann greifen, wenn wir in Deutschland überhaupt genügend Kinderkrippen hätten", sagt der Verbandschef. Doch das sei nicht der Fall. Gerade Alleinerziehende würden händeringend nach einer Betreuungsmöglichkeit suchen, sie wollten ja arbeiten. Solange nicht alle Eltern für ihre Kinder einen Krippenplatz bekämen, die dies wollten, sei diese Argumentation daher "obszön". "Wahlfreiheit haben nur die Gutverdienenden", sagt Schneider.
Das sieht man bei der Arbeiterwohlfahrt ähnlich: Es sei seit langem bekannt, dass das Betreuungsgeld "Fehlanreize" schaffe und dazu führe, dass gerade die Familien ihre Kinder aus der Kita nähmen oder sie erst gar nicht hinschickten, die von einem Kita-Platz besonders profitieren, teilt AWO-Chef Wolfgang Stadler auf der Internetseite des Verbands mit.
"Aber das lässt sich aus Sicht der AWO nicht dadurch lösen, dass man das Betreuungsgeld nur noch Familien mit besserem Einkommen gewährt." Der Aktionismus der Bundesregierung und ihre täglich neuen Vorschläge zum Betreuungsgeld zeigten nur eines: ihre Hilflosigkeit. Egal, was die Bundesregierung noch verspreche oder vorschlage, "es macht das Betreuungsgeld weder richtiger noch sinnvoller", so Stadler.
Auch in der Lösung des Problems sind sich die Verbandschef einig: Das ganze Projekt Betreuungsgeld muss gekippt werden. Statt in die umstrittene neue Familienleistung solle das Geld in den Ausbau von Betreuungseinrichtungen und Bildungsinstitutionen gesteckt werden, fordern sie. "Dann kommt das Geld auch da an, wo es hingehört", betont Stadler. Und Schneider präzisiert: "Und nicht auf den Sparkonten Wohlhabender."
Wie wird es Ihrer Einschätzung mit dem Sozialstaat weitergehen und kann man sich bei den Alternativen dazu auf die politischen Parteien verlassen?
Christoph Butterwegge: Wenn keine grundlegende Kurskorrektur erfolgt, spaltet sich unser Gemeinwesen in einen Wohlfahrtsmarkt sowie einen Wohltätigkeitsstaat: Auf dem Wohlfahrtsmarkt kaufen sich Bürger, die es sich finanziell leisten können, soziale Sicherheit (zum Beispiel Altersvorsorge durch Versicherungspolicen der Assekuranz). Der zu Grunde reformierte Sozialstaat stellt nur noch die euphemistisch "Grundsicherung" genannte Minimalleistungen bereit, die Menschen vor dem Verhungern und Erfrieren bewahren, überlässt sie ansonsten jedoch der Obhut karitativer Organisationen und privater Wohltäter. An die Stelle des Sozialstaates tritt ein Staat der Stifter, privaten Spender und Sponsoren.
Mit der solidarischen Bürgerversicherung verfügen SPD, Bündnisgrüne und LINKE zwar über eine sinnvolle Alternativkonzeption zum Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat. Leider fehlt ihnen jedoch die Fähigkeit und Bereitschaft, dafür gemeinsam einzutreten und es konsequent umzusetzen. Nur so könnte der Wohlfahrtsstaat eine sinnvolle Weiterentwicklung erfahren, statt endgültig ruiniert zu werden.
http://www.heise.de/tp/artikel/36/36980/1.html
http://sozialrechtsexperte.blogspot.de/2012/05/hartz-iv-und-die-zukunft-des.html
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